Was macht eine Rede zu einer großen Rede?
Eine Analyse der Leichenrede des Marc Anton

Immer wieder werden wir gefragt, was eine Rede zu einer großen Rede macht. In unserer Antwort bleiben wir klassisch: In dem historischen Drama „Cäsar“ von William Shakespeare (um 1600 n. Chr. gestalteten) findet sich als rhetorischer Höhepunkt die Rede des Marcus Antonius an das Volk von Rom.

Wir glauben, dass dies eine der wirkungsvollsten Reden ist, die jemals aufgesetzt wurde.
Deshalb lohnt es sich, diese Rede einmal genauer anzuschauen:
Wie ist der Einstieg, die Dramaturgie, die Kernbotschaft, die Begründungen und der Schluss, die nachklingende Wirkung? Was macht diese Rede zu einer großartigen Rede?

Shakespeare nimmt uns mit in die spannende Welt der Antike, das Reich des großen Imperators Cäsar.

Die Situation: Cäsar ist von Brutus und seinen Komplizen während der Sitzung des Senats ermordet worden. Cäsars Freund Marcus Antonius reißt die Vollstreckung von Cäsars Testament an sich. Cäsar hat seinen Großneffen Octavius zum Erben eingesetzt, dieser ist gerade auf dem Weg nach Rom. Gerade eben hat die Menge Brutus für seine Tat applaudiert: Richtig, dass er Cäsar getötet hatte!
Nun tritt Marc Anton auf und wendet sich direkt an das Römische Volk.

Die Rede des Marc Anton

Freunde! Römer! Mitbürger!

Hört mich an!
Begraben will ich Cäsarn,
nicht ihn preisen.
Was Menschen Übles tun,
das überlebt sie,
das Gute wird mit ihnen oft begraben.
So sei es auch mit Cäsarn.

Brutus hatte Antonius gestattet, von Cäsar “Gutes nach Vermögen“ zu reden. Antonius beginnt noch bescheidener. Er versichert, er wolle Cäsar nicht preisen. So erwartet es das Publikum, das für Brutus und gegen Cäsar eingenommen ist. Aber Antonius weckt immerhin die Vermutung, dass auch an Cäsar etwas Gutes war. Das soll jetzt mit ihm begraben werden.
Was mag das Gute sein? Ist es richtig das Gute mit ihm zu begraben?
Man wird neugierig.

Der edle Brutus hat auch gesagt,
dass er voll Herrschsucht war.
Und war er das,
so war’s ein schwer Vergehen,
und schwer hat Cäsar auch dafür gebüßt.

Antonius wiederholt die “Message“ des Brutus: dass Cäsar herrschsüchtig war. Aber bei Antonius ist das keine Tatsache mehr. Es ist nur noch eine Möglichkeit.
Und jedenfalls: Wenn der Vorwurf der Herrschsucht berechtigt war, ist er mit Cäsars Tod getilgt.

Hier, mit des Brutus Willen und der andern
(denn Brutus ist ein ehrenwerter Mann,
das sind sie alle, alle ehrenwert)
komm‘ ich, bei Cäsars Leichenzug zu reden.

Antonius erfüllt buchstabengetreu die Bedingungen, die Brutus ihm für seinen Auftritt gestellt hatte: zu sagen, dass er mit Willen der Verschwörer spricht und diese nicht zu tadeln.
Antonius geht noch einen Schritt weiter. Er nennt Brutus und die Verschwörer „ehrenwerte Männer“. Sie hatten sich für den blutigen Tag auf ihre Ehre berufen.
Es schien, dass sich Antonius dieser These anschließt. Der Satz, Brutus und die anderen seien ehrenwerte Männer, klingt wie Anerkennung.

Er war mein Freund,
war mir gerecht und treu;

Ein persönliches Bekenntnis zum Toten. Das fordert Mut.
Wenn das Volk es ohne Murren hinnimmt, hat Antonius schon viel gewonnen.
Das Volk nimmt es hin.

Doch Brutus sagt,
dass er voll Herrschsucht war,
und Brutus ist ein ehrenwerter Mann.

Antonius schließt sich an: an die These, dass Cäsar herrschsüchtig war.
Kann Antonius beweisen, dass diese These falsch ist?
Wenn ihm das gelingt, dann würde die Sache des Brutus und der Verschwörer insgesamt wanken und stürzen. Dann ist Brutus kein ehrenwerter Mann.

Er brachte viele Gefangene heim nach Rom,
wofür das Lösegeld den Schatz gefüllt.
Sah das der Herrschsucht wohl am Cäsar gleich?
Wenn Arme zu ihm schrien, so weinte Cäsar;
Die Herrschsucht sollt‘ aus härterm Stoff bestehn.

Gefangene und Geld. Arme und Tränen.
Das sind Worte, die Gefühle und Verstand ansprechen. Das kann man sich vorstellen. Anschauliche Bilder.
Die Fragezeichen hinter der These, dass Cäsar herrschsüchtig war, werden größer.

Doch Brutus sagt,
dass er voll Herrschsucht war,
und Brutus ist ein ehrenwerter Mann.

Durch immer neue Wiederholung prägt Antonius es ein: Cäsars Herrschsucht – das ist die These des Brutus; dieser Brutus ist ehrenwert – , aber wenn seine These wiederlegt wird, hat er auch seine Ehre verloren.

Ihr alle saht,
wie am Lupercusfest
ich dreimal ihm die Königskrone bot,
die dreimal er geweigert.
War das Herrschsucht?

Das Publikum wird sich an das erinnern, was es vor vier Wochen gesehen hat. Ob Cäsars Hand von Mal zu Mal stärker nach der Krone zuckte, wie die Verschwörer es gesehen haben – das zählt jetzt nicht. War er überhaupt herrschsüchtig?

Doch Brutus sagt,
dass er voll Herrschsucht war
und ist gewiss ein ehrenwerter Mann.

Soll ich, mag der Bürger sich jetzt fragen, dem Wort des Brutus mehr trauen als meinen eigenen Augen? Ich habe doch gesehen, dass er die Krone nicht genommen hat. Und wenn mein eigener Augenschein das Wort des Brutus wiederlegt – ist Brutus dann wirklich ein ehrenwerter Mann?

Ich will, was Brutus sprach, nicht wiederlegen.

Richtig, Antonius hatte ja versprochen, Brutus und die Verschwörer nicht zu tadeln. Er hält Wort.
Muss er wiederlegen, was Brutus gesagt hat?
Viel besser, das Publikum tut es selbst: Wenn es sich daran erinnert, dass Cäsar die Krone zurückgewiesen hat – und dass Brutus trotzdem behauptet hat, Cäsar sei herrschsüchtig gewesen.

Ich spreche hier von dem nur,
was ich weiß.
Ihr liebtet all ihn einst,
nicht ohne Grund;
was für ein Grund wehrt euch,
um ihn zu trauern?
O Urteil,
du entflohst zum blöden Vieh,
der Mensch ward unvernünftig.-
Habt Geduld!
Mein Herz ist in dem Sarge hier beim Cäsar,
und ich muss schweigen,
bis es mir zurückkommt.

Jetzt spricht Antonius das Publikum direkt an. Wollen die Menschen es noch wahrhaben, dass sie Cäsar geliebt haben? Werden die Menschen den Vorwurf auf sich sitzen lassen, sie seien unvernünftig? Blöder als das Vieh?
Antonius hat seine Pfeile abgeschossen und schweigt. Die Wette gilt, dass er die Ohren spitzt. Er muss hören, was die Menschen murmeln. Das ist seine Erfolgskontrolle. Das entscheidet darüber, wie er weiter reden wird.

Erster Bürger:

Mich dünkt,
in seinen Reden ist viel Grund.

Zweiter Bürger:

Wenn man die Sache recht erwägt,
ist Cäsar groß Unrecht wiederfahren.

Dritter Bürger:

Meint ihr, Bürger?
Ich fürcht‘,
ein schlimmrer kommt an seine Stelle.

Vierter Brüger:

Habt ihr gehört?
Er nahm die Krone nicht!
Da sieht man,
dass er nicht herrschsüchtig war.

Erster Bürger:

Wenn dem so ist,
wird es manchem teuer zu stehen kommen.

Zweiter Bürger:

Ach, der arme Mann!
Die Augen sind ihm feuerrot vom Weinen.

Dritter Bürger:

Antonius ist der bravste Mann in Rom!

Erstes Etappenziel für Antonius. Er kann mit sich sehr zufrieden sein. Die Menge hat Mitleid mit ihm. Sie würdigt ihn. Sie wägt seine Worte. Der Kontakt zwischen Redner und Publikum ist voll hergestellt.
Mehr: Zweifel breitet sich aus an der These des Brutus, dass Cäsar herrschsüchtig war. Dumpfe Zukunftsangst mischt sich mit einem unklaren Wusch nach Vergeltung. Unheilschwanger zieht sich etwas zusammen. Verebbt es wieder im Geschwätz? Oder kann Antonius aus der Spannung einen Blitz zünden?

Vierter Bürger:

Gebt acht!
Er fängt von neuem an zu reden.

Antonius:

Noch gestern hätt‘ umsonst
den Worten Cäsar die Welt sich widersetzt.
Nun liegt er da,
und der Geringste neigt sich nicht vor ihm.

Noch halb in trauriger Trance, gestattet Antonius sich etwas, das Brutus ihm verboten hatte: den Cäsar zu preisen.
Neigt sich niemand mehr vor Cäsar? Wegen seiner gestrigen Größe? Aus Anstand vor dem Toten? Wer sich nicht neigt muss in Verlegenheit geraten.

O Bürger!
Strebt‘ ich, Herz und Mut in euch
zur Wut und zur Empörung zu entflammen,
so tät‘ ich Cassius und Brutus unrecht,
die ihr als ehrenwerte Männer kennt.
Ich will ihnen nicht unrecht tun,
will lieber dem Toten unrecht tun,
mir selbst und euch,
als ehrenwerte Männer, wie sie sind.

Jetzt fallen die Reizworte: „Mut, Wut, Empörung, Flammen“
Jetzt ordnet Antonius die Gruppen: Einerseits die „Wir“-Gruppe, der tote Cäsar, er selbst und die Bürger. Andererseits Brutus und die Verschwörer, sogenannte ehrenwerte Männer und wehe, wenn sie als unehrenhaft entlarvt werden! Dann brechen die Schranken.
Lässt die „Wir“-Gruppe sich noch enger zusammenschweißen?
Kann Antonius noch einen Trumpf ziehen?

Doch seht dies Pergament mit Cäsars Siegel,
ich fand’s bei ihm,
es ist sein letzter Wille.

Der Redner zeigt es vor. Das macht Eindruck. Das Publikum will nicht nur etwas hören. Es will auch etwas sehen. Autorität soll es haben: ein Siegel, einen Stempel.
Nach einer Konferenz mit Hitler im Jahre 1938 schwenkte der englische Premierminister Neville Chamberlain ein Stück Papier, als sei es ein Vertrag auf Ewigkeit und verkündete: „Peace in our time!“ – „Frieden in unserer Zeit!“
Die meisten Redner müssen sich mit Schaubildern, Dias oder Filmen behelfen.

Vernähme nun das Volk dies Testament
– das ich, verzeiht mir,
nicht zu lesen denke –,
sie gingen hin und küssten Cäsars Wunden
und tauchten Tücher in sein heil’ges Blut,
ja, bäten um ein Haar zu Angedenken,
und sterbend nennten sie’s im Testament
und hinterließen’s ihres Leibes Erben
zum köstlichen Vermächtnis.

Schwülstige Bilder von Blut und Heiligkeit. Dahinter zwei geschickte Schachzüge: der Redner steigert Spannung auf den Inhalt des Testaments. Er wird es nicht einfach vorlesen. Er wird es sich abkaufen lassen. Und warum soll er es nicht vorlesen? Hat Brutus das vielleicht verboten? Nur eine vage Vermutung. Aber noch ein Flecken auf des Brutus ehrenwerter Weste.

Vierter Bürger:

Wir wollen’s hören:
Lest das Testament!
Lest, Marc Anton!
Lasst Cäsars Testament uns hören.

Jetzt sprechen nicht mehr einzelne Bürger. Jetzt spricht die Menge.
Das ist eine neue Dimension. Für die Masse gelten andere Gesetzte als für einzelne Menschen.
Der französische Arzt Le Bon hat diese Phänomen 1895 in seinem Buch „Psychologie der Massen“ erstmals gründlich analysiert. Das war nach Marc Antons Rede, lange nach Shakespeare. Aber das Gefühl für die Massenseele haben erfolgreiche Redner immer gehabt.
Wird Antonius die Menge in den Griff bekommen?

Antonius:

Seid ruhig, liebe Freunde!
Ich darf’s nicht lesen.
Ihr müsst nicht wissen,
wie euch Cäsar liebte.
Ihr seid nicht Holz, nicht Stein,
ihr seid ja Menschen:
drum, wenn ihr Cäsars Testament erführt,
es setzt in Flammen euch,
es macht euch rasend!
Ihr dürft nicht wissen,
dass ihr ihn beerbt,
denn wüsstet ihr’s,
was würd draus entstehn?

Antonius ziert sich. Er treibt den Preis hoch. Er deutet den Inhalt des Testaments nur an. Und er setzt wieder Reizworte ein: „Flammen. Raserei.“

Bürger:

Lest das Testament!
Wir wollen’s hören, Marc Anton!
Ihr müsst es lesen!
Cäsars Testament!

Antonius:

Wollt ihr euch wohl gedulden?
Wollt ihr warten?
Ich übereilte mich,
da ich’s euch sagte.
Ich fürcht‘;
ich tret‘ den ehrenwerten Männern zu nah;
durch deren Dolch Cäsar fiel!
Ich fürcht‘ es.

Aha, also doch wegen Brutus, dass Marc Anton das Testament nicht lesen will! Das bedeutet: Brutus ist der Gegner aller derer, die das Testament hören wollen. Dass Brutus den Cäsar umgebracht hat, ist im Moment nicht interessant. Aber kann ein Mann, der sich dem Volkswillen, das Testament zu hören, so in den Weg stellt, ein ehrenwerter Mann sein?

Vierter Bürger:

Sie sind Verräter
– ehrenwerte Männer!

Bums – jetzt ist die Haftladung losgegangen! Das Wort von den ehrenwerten Männern kippt um. Einer aus der Masse setzt es mit Verrätern gleich. Er findet keinen Widerspruch.

Bürger:

Das Testament!
Das Testament!

Zweiter Bürger:

Sie waren Bösewichte, Mörder!
Das Testament!
Lest das Testament!

Antonius:

So zwingt ihr mich,
das Testament zu lesen?
Schließt einen Kreis um Cäsars Leiche denn,
ich zeig euch den,
der euch zu Erben macht.
Erlaubt ihr mir’s?
Soll ich hinunter steigen?

Bürger:

Ja, kommt nur!

Zweiter Bürger:

Steigt herab.

(Er verlässt die Rednertribüne.)

Dritter Bürger:

Es ist euch gern erlaubt.

Vierter Bürger:

Schließt einen Kreis herum.

Erster Bürger:

Zurück vom Sarge!
Von der Leiche weg!

Zweiter Bürger:

Platz für Antonius!
Für den edlen Antonius!

Antonius:

Nein, drängt nicht so heran.
Steht weiter weg!

Bürger:

Zurück! Platz da! Zurück!

Wieder eine Erfolgskontrolle für Antonius. Am zweiten Etappenziel. Die Menge nimmt ihn in ihren Kreis auf. Das ist ein entscheidender Schritt. Die Menge solidarisiert sich sichtbar mit dem Redner. Er hat die Menge im Griff. Er kann sie zurückweichen machen. Jetzt ist er seiner Sache sicher. Jetzt kann er sich offen zu  Cäsar bekennen. Jetzt zielt er aufs Gemüt und die Tränendrüsen.

Antonius:

Sofern ihr Tränen habt,
bereitet euch, sie jetzt zu vergießen.
Diesen Mantel

Wieder ein Schaustück; näher am Toten als das Pergament,

ihr kennt ihn alle!

Jetzt bekommt die „Wir“-Gruppe ihre blutbefleckte Fahne!

Noch erninnr‘ ich mich des ersten Males,
dass ihn Cäsar trug in seinem Zelt,
an einem Sommerabend
– er überwand den Tag die Nervier –.

Eine heiter-patriotische Stimmung. Der wunderbare Cäsar. Sein Freund Marc Anton war bei ihm.
Aber jetzt…

Hier, schaut,
fuhr des Cassius Dolch hinein!
Seht, welch Riss der tück’sche Casca machte!
Hier stieß der vielgeliebte Brutus durch!
Und als er den verfluchten Stahl wegriss,
schaut her,
wie ihm das Blut des Cäsars folgte,
als stürzt‘ es vor die Tür, um zu erfahren,
ob wirklich Brutus so unfreundlich klopfte.
Denn Brutus wie ihr wisst war Cäsars Engel!
Ihr Götter, urteilt,
wie ihn Cäsar liebte!
Kein Stich von allen Schmerzen so wie der.
Denn als der edle Cäsar Brutus sah,
warf Undank, stärker als Verräterwaffen,
ganz ihn nieder!
Da brach sein großes Herz,
und in dem Mantel sein Gesicht verhüllend,
grad am Gestell der Säule des Pompeius,
von der das Blut ran,
fiel der große Cäsar.

Große, bluttriefende Schilderung. Da kann kein Auge trocken bleiben. Und die Moral?

O meine Bürger,
welch ein Fall war das!
Da fielet ihr und ich,
wie alle fielen!
Und über uns frohlockte blut’ge Tücke.

Die „Wir“-Gruppe im Blutbad vereint. Die tückischen Gegner frohlocken. Wie lange noch…?

O ja! Nun weint ihr,
und ich merk‘,
ihr fühlt den Drang des Mitleids:
dies sind milde tropfen.

Neue Erfolgskontrolle: Tränen. Tiefes Mitleid für Cäsar.
Mehr als Mitleid für Antonius: Compassion.
Das englische Wort ist schwierig zu übersetzen. Willi Brandt hat als Bundeskanzler versucht, es auf Englisch ins deutsch politische Wörterbuch einzusetzen. Ein leidenschaftliches, anständiges Handeln, das aus menschlichem Mitgefühl geboren wird.
Vielleicht: Mitleidenschaft.
Und Antonius – kann er die Menge noch höher reißen? Sie zur Aktion beflügeln? Hat er dafür noch Worte?

Wie? Weint ihr, gut Herzen,
seht ihr gleich nur unsers Cäsars Kleid verletzt?
Schaut her!
Hier ist er selbst,
geschändet von Verrätern.

Das ist der rhetorische Höhepunkt. Antonius enthüllt das Opfer: Cäsar.
Er enthüllt seine Wahrheit: geschändet von Verrätern. Er lässt zum ersten Mal alle Vorsicht fallen und brandmarkt die Gegner: Verräter.
Jetzt wird nicht mehr gedeutelt, wer herrschsüchtig und wer ehrenhaft ist. Die Menge ist Wachs in den Händen des Mark Anton. Wie schnell wird er sie zur Aktion bewegen?

Erster Bürger:

O kläglich Schauspiel!

Zweiter Bürger:

O edler Cäsar!

Dritter Bürger:

O jammervoller Tag!

Vierter Bürger:

O Buben und Verräter!

Erster Bürger:

O blut’ger Anblick

Zweiter Bürger:

Wir wollen Rache! Rache!
Auf und sucht!
Sengt! Brennt! Schlagt! Mordet!
Lasst nicht einen leben!

Das ist der Sieg des Mark Anton. Die Stimmung ist voll umgeschlagen und sucht ein Ventil: zur Aktion! „Zum Haus des Brutus“, müsste Antonius rufen. Die Menge bräche los.
Aber er kennt den Wankelmut der Menschen. Er hat ihn eben selbst erlebt. Er muss den Willen der Aktion nicht nur entfachen, sondern zur Entschlossenheit festigen.

Antonius:

Seid ruhig, meine Bürger!

Erster Bürger:

Still da!
Hört den edlen Antonius!

Zweiter Bürger:

Wir wollen ihn hören,
wir wollen ihm folgen,
wir wollen für ihn sterben!

Antonius:

Ihr guten, lieben Freunde,
ich muss euch nicht hinreißen
zu des Aufruhrs wildem Sturm:
die diese Tat getan sind ehrenwert.

Ehrenwert?
Das ist jetzt nur noch ein anders Wort für Verräter.

Was für Beschwerden sie persönlich führen,
warum sie’s taten,
ach, das weiß ich nicht.
Doch sind sie weis‘ und ehrenwert

Immer wieder, bis der Dümmste es weiß: ehrenwert=verräterisch. Das ist ein Vorläufer des Doppeldeutigen Zwiedenkens, das Georg Orwell dreieinhalb Jahrhunderte nach Shakespeares „Julius Cäsar“ in seinem Buch 1984 vorstellte: Wahrheit ist Lüge, Krieg ist Frieden.

und werden euch sicherlich mit Gründen Rede stehn.
Nicht euer Herz zu stehlen,
komm‘ ich, Freunde:
ich bin kein Redner,
wie es Brutus ist

Das ist klug. Das ist wichtig. Der Redner muss durch seine Rede wirken, aber er darf nicht als Redner anerkannt werden; besonders in Deutschland nicht. Sonst meinen die Menschen, es sei ihm nicht ernst, er sei ein Schönredner, ein Marktschreier.
Otto von Bismarck, beispielsweise, wusste das genau. Er war, trotz einer überraschend hohen Stimme, ein guter Redner, wusste kräftige Sprüche, brachte eindrucksvolle Vergleiche, wurde mit Zwischenrufen fertig, riss das Parlament mit – aber er stotterte und räusperte sich so viel, dass die meisten Menschen überzeugt waren: Das ist kein Redner. Das ist ein schlichter Mann; er wirkt durch die Sache, nicht mit Worten.

nur, wie ihr alle wisst,
ein schlichter Mann,
dem Freund ergeben,
und das wussten die gar wohl,
die mir gestattet hier zu reden.
Ich habe weder schriftliches noch Worte,
noch Würd‘ und Vortrag,
noch die Macht der Rede,
der Menschen Blut zu reizen:
nein, ich spreche nur gradezu
und sage euch, was ihr wisst.
Ich zeig‘ euch des geliebten Cäsars Wunden,
die armen stummen Wunden,
heiße die statt meiner Reden.
Aber wär‘ ich Brutus
und Brutus Marc Anton,
dann gäb‘ es einen,
der eure Geister schürt
und jeder Wunde des Cäsar eine Zunge lieh,
die selbst, die Steine Roms
zum Aufstand würd‘ empören.

Schlagworte: Aufstand! Empörung!

Dritter Bürger:

Empörung!

Erster Bürger:

Hinweg denn!
Kommt, sucht die Verschwor’nen auf.

Antonius:

Noch hört mich meine Bürger,
hört mich an!

Was denn nun noch? Goethe hat gesagt: Enthusiasmus lässt sich nicht auf  Flaschen ziehen. Wenn Antonius die Wut der Menge immer wieder verstöpselt, wird sie sich nicht gegen ihn wenden? Was hat er nun noch zu sagen?

Bürger:

Still da!
Hört Marc Anton!
Den edlen Mann, Anton!

Antonius:

Nun, Freunde,
wisst ihr selbst auch, was ihr tut?
Wodurch verdiente Cäsar eure Liebe?
Ach nein!
Ihr wisst es nicht.
Hört es denn!
Vergessen habt ihr das Testament,
wovon ich sprach.

Richtig! Vor ein paar Minuten noch benahm sich die Menge, als hinge ihre Seligkeit davon ab, dass sie den Inhalt des Testaments erführen. Nun haben es die Leute glatt vergessen. Das zeigt, wie stark der blutige Mantel und die blutige Leiche gewirkt haben.
Und –Hand aufs Herz, lieber Leser: Hatten Sie noch an das Testament gedacht? Nein? Das ist die schönste Bestätigung für die Redekunst des Mark Anton. Und er setzt das Testament zum zweiten Mal ein. Erst war es sein Freipass in die Menge, zum solidarischen Schulterschluss im Kreis des Volkes. Jetzt wirkt es als Befestigungsmittel: eine Lohnzusage für die Mordsarbeit, die bevorsteht.

Bürger:

Wohl war!
Das Testament!
Bleibt, hört das Testament.

Antonius:

Hier ist das Testament mit Cäsars Siegel.
Darin vermacht er jedem Bürger Roms,
auf jeden Kopf euch,
fünfundsiebzig Drachmen.

Eine klare, vorstellbare Summe, pro Kopf ausgerechnet, nicht schäbige Pfennige, nicht abstrakte Zahlen mit vielen Nullen.

Zweiter Bürger:

O edler Cäsar!
-Kommt, rächt seinen Tod!

Dritter Bürger:

O königlicher Cäsar!

Antonius:

Hört mich mit Geduld!

Bürger:

Still da!

Antonius:

Auch lässt er alle seine Lustgehege, verschlossene Lauben,
neugepflanzte Gärten diesseits des Tiber
euch und euren Erben auf ew’ge Zeit,
damit ihr euch ergehn
und gemeinsam euch ergötzen könnt.

Nach der großen heroischen Erregung nun diese materiellen Versprechungen? Ist das nicht kleinlich? Marc Anton kannte seine Römer. Er wusste auf welchem Ohr sie gut hörten. Und er entwarf eine Vision: in Cäsars Gärten sich ergehen – wie Cäsar: wenn die Mordsarbeit getan war.

Das war ein Cäsar!
Wann kommt seinesgleichen?

Nun eine rhetorische Frage? Eine Frage an das Publikum? Man muss des Publikums sehr sicher sein, wenn eine Antwort kommen soll, die richtige Antwort, eine laute, eindeutige Antwort.
Zum Beispiel:
Joseph Goebbels, Sportpalast-Rede 1943 in Berlin.
Goebbels:
„Wollt ihr den totalen Krieg?“
Antwort, laut und eindeutig:
„Ja!“
Die NSDAP konnte dafür sorgen, das genügend „Ja“-Schreier im Publikum saßen.
Und Goebbels war ein geschickter Redner.

Erster Bürger:

Nimmer! Nimmer! Kommt!
Hinweg! Hinweg!
Verbrennt den Leichnam auf dem heil’gen Platze,
und mit den Bränden zündet den Verrätern die Häuser an.
Nehmt denn die Leiche auf!

Zweiter Bürger:

Geht! Holt Feuer!

Dritter Bürger:

Reißt Bänke ein!

Vierter Bürger:

Reißt Sitze, Läden, alles ein!

Antonius:

Nun wirk es fort.
Unheil, du bist im Zuge,
nimm, welchen Lauf du willst!

Antonius hat mit der Macht seiner Worte die Meinung der Menschen und den Lauf der Geschichte gewendet. Am Lauf des Unheils gibt es für die nächste Wegstrecke keine Zweifel. Brutus und Cassius, so meldet ein Diener, seien wie toll zum Tor hinausgeritten. Die Menschenmenge reißt als erstes den Dichter Cinna in Stücke: egal, ob er denselben Namen trägt wie einer der Verschwörer oder ob er schlechte Verse macht – die rasende Menge nimmt ihre Opfer, wo sie sie findet.

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