Experteninterview – Homeoffice aus psychologischer Sicht

Homeoffice – für einige Menschen schon etwas Gewohntes. Für viele, gerade in Zeiten von COVID-19, etwas ganz Neues.
Wie wirkt sich die Arbeit im Homeoffice auf uns Menschen aus?
momentum sprach mit Dipl.-Psychologin Ellen Flies über die Effekte des neuen Arbeitens auf unsere Psyche. Ellen Flies ist Expertin für Embodiment und Leadership. Als Gründerin und Inhaberin von MiA, Minds in Action, mit Sitz in Bonn, beschäftigt sie sich seit 2009 mit Embodiment, einer neuen Forschungsrichtung moderner Kognitionswissenschaften, wonach das Zusammenspiel von Körper und Psyche einen immens höheren Stellenwert hat, als bisher vermutet wurde. In ihren strategischen Coachings nutzt sie Embodiment als Tool für Leadership und Corporate Health.

Was macht die Arbeit im Homeoffice mit uns Menschen?

Für die meisten von uns hört sich Homeoffice erstmal verlockend und positiv an. Wir verbinden es mit Flexibilität und Spontanität. Die Erfahrung zeigt aber, dass Homeoffice gerade für unsere Psyche so seine Tücken hat. Vor allem junge Mütter z. B. unterschätzen die Reibungsverluste durch den psychischen Wechsel zwischen der rein kognitiven, beruflichen Arbeit und der emotionalen Arbeit mit dem Kind. Auch stellen unvorhergesehene Störungen einen immensen Stresslevel dar. Wir können z. B. nicht wissen: Schläft das Kind eine Stunde? Oder doch länger? Diese Störungen stressen uns, bewusst oder unbewusst.

Betrachten wir das einmal aus der Embodiment-Perspektive, also dem Zusammenspiel von Körper und Geist: Unsere Psyche ist eingebettet in unseren Körper und der Körper ist samt Psyche eingebettet in unsere Umwelt. Unsere Umwelt, z.B. unser Zuhause wirkt auf unseren Körper, wirkt auf unsere Psyche. Und das natürlich anders, als die Umwelt in unserer Arbeitswelt auf uns wirkt. Es ist ein Koppelungsprozess.

Daraus folgern wir: Unsere Psyche zuhause ist eine andere als unsere Psyche auf der Arbeit – alleine durch den Umweltfaktor.

Welche Möglichkeiten gibt es, diese Stolpersteine auszugleichen?

Trick Nr. 1. Festen Arbeitsplatz einrichten

Die wenigsten von uns haben ein eigenes Arbeitszimmer. So kann es vorkommen, dass mal von der Küche, mal vom Wohnzimmer oder vom Balkon aus gearbeitet wird. Besser ist es, Sie richten sich einen festen Platz in der Wohnung ein, von dem aus Sie arbeiten werden. Und sei er noch so klein. Denn Räume sind im Kopf besetzt. Definieren Sie sich diesen Platz als Ihren Arbeitsplatz und setzen sich ganz bewusst dahin, wenn Sie arbeiten möchten. Richten Sie sich diesen Platz komfortabel ein, so dass Sie sich wohlfühlen und sich konzentrieren können mit wenig Ablenkung. Ein wenig Abgeschiedenheit und Ruhe sind wichtig.

Trick Nr. 2: Arbeitskleidung anlegen

Auch wenn Sie sich in Ihrer bequemen Jogginghose noch so wohl fühlen: Machen Sie sich so zurecht, als ob Sie zur Arbeit gehen. Kleiden Sie sich so, dass Sie sich busy fühlen. Denn wie der Körper gekleidet ist hat wieder einen Einfluss auf unsere Psyche. In Jogginghose bin ich automatisch in einer anderen Haltung, bin eher lässiger unterwegs und nicht so fokussiert auf eine Aufgabe. Auch das ist eine Embodiment-Perspektive.

Trick Nr. 3: Auf ein gutes Zeit- und Zielmanagement achten

Im Homeoffice ist es umso wichtiger, einen guten Zeitplan zu haben und sich selbst erreichbare Ziele zu setzen. Strukturieren Sie sich Ihren Tag, planen Sie feste Zeiten, terminieren Sie sich Ihre Aufgaben.

Trick Nr. 4: In den Arbeitsmodus versetzen

Wie im realen Arbeitsplatz gilt auch im Homeoffice: Am kreativsten und produktivsten sind wir, wenn wir emotional möglichst neutral aktiviert sind. Es wird schwierig, in einer emotional aufgewühlten Verfassung gute Ergebnisse abzuliefern. Aus psychologischer Sicht kann es hilfreich sein, sich mit speziellen Übungen in den Arbeitsmodus zu versetzen. Das können Achtsamkeits- oder Neutralisierungsübungen sein. Ein anderes Beispiel ist, seinen Homeoffice Tag mit einem kleinen Ritual zu beginnen und zu beenden. Immer gleich, immer wiederkehrend, immer verlässlich. Das hilft, um von einem Modus in den anderen zu wechseln. Und ganz wichtig: Belohnen Sie sich einmal, wenn Sie Ihr Tagesziel erreicht haben!

Was bedeutet das für unsere Work-Life-Balance?

Im Homeoffice wird die Grenze zwischen Work und Life immer fließender. Aus psychologischer Sicht finde ich das gut so. Denn wer sagt eigentlich, dass beides immer so strikt getrennt sein muss? Schon allein räumlich findet ja mit der privaten Umwelt eine Integration des Privaten in die Arbeit statt, der Arbeitsplatz wird verlagert in die Privatsphäre. Als Psychologin stellt sich mir die Frage, ob mentale Grenzen dadurch nicht offener werden können. Wir kommen weg vom alten Rollenverständnis: Arbeitsmensch oder privater Mensch. Auf der Arbeit bin ich so, privat bin ich so. Vielmehr kann es jetzt heißen: Ich bin Ich!

Was heißt das für unser Verständnis von Führung?

Wenn es um Führung im Homeoffice geht, ist umso mehr ein transformativer Führungsstil gefordert, der von uns in der VUKA-Welt in diesen disruptiven Zeiten verlangt wird.

Gute Führungskräfte sind in der Lage, funktionale Beziehungen mit den Mitarbeitern zu führen und können damit gut zwischen Empathie und Macht pendeln. Das hat man früher einem Psychotherapeuten zugeschrieben, aber niemals einer Führungskraft! Heute hat sich das geändert. Und da ist natürlich die Frage, was ich als Führungskraft tun kann, um Beziehungen in Homeoffice-Zeiten gut zu gestalten. Denn in diesen Tagen fehlt wahnsinnig viel: Es fehlt der Kontakt im gemeinsamen Umfeld, es fehlen die spontanen Tür- und Angel-Gespräche, es fehlen die Tasse Kaffee oder der gemeinsame Gang zur Kantine. Wir wissen aus der Embodiment-Forschung , dass Kommunikation viel mehr ist als die Übermittlung von Worten. Kommunikation ist auch das in Resonanz treten mit meinem Gegenüber.

Wir wissen aus der Neuroforschung, dass sich bei kreativen gemeinsamen Prozessen die Gehirne der Teilnehmer synchronisieren. Hier muss man sich natürlich fragen: Wie kann das möglichst gut gelingen, wenn wir digital operieren? Das Digitale hat nicht das gemeinsame Umfeld, das Digitale zeigt meistens nur einen Ausschnitt, nicht den ganzen Körper. Durch die räumliche Entfernung haben wir keine wirklichen Antennen für den anderen, und das, was ihn bewegt. Ich glaube, dass es gerade in der digitalen Arbeitswelt mit Homeoffice wichtig ist, persönliche Kontakt über digitale Meetings hinaus zu pflegen. Wir sollten uns für den anderen wirklich interessieren, z.B. durch ein Telefonat, das man mit einem führt, bevor man ein Meeting mit dem ganzen Team hat. Um eine Baseline zu haben: Wie ist die Stimmung gerade beim anderen? Was erlebt der andere gerade? Wie geht es ihm? Also die Forderung nach durchaus mehr Offenheit für das persönliche Umfeld der Mitarbeitenden.

Es liegt an den Führungskräften, mit gutem Beispiel voranzugehen und auch in Bezug auf die Selbstöffnung etwas authentischer zu werden. Einfach um oben genannten Synchronisationsprozesse zu initiieren. Hier geht es nicht um Gefühlsduselei, sondern um Strategien für effektive Kommunikation, und dafür brauchen wir Synchronisation.

Und nach der Krise?

Durch die Notwendigkeit nach Synchronisation ist es unheimlich wichtig, dass Führungskräfte sich beraten lassen. Die Beratung sollte dahingehen, dass sie ihre Mitarbeitenden wieder ins Boot holen, sie abholen. Es herrscht doch ein emotionaler Ausnahmezustand: Die Mitarbeitenden haben vielleicht große Angst durchlebt, vielleicht Wut, vielleicht Trauer. Vielleicht haben sie Familienmitglieder verloren oder sind in großer Sorge oder haben finanzielle Existenznöte.

Es ist ganz wichtig, wenn man mit diesen Menschen wieder in kreative Prozesse gehen will, dass man sie emotional wieder reguliert und stabilisiert. Denn wenn ich das alles an bewegenden Emotionen wegdrücke und versuche, schnell und unkompliziert wieder in einen professionellen Business-Modus zu gehen, ist es nicht funktional. Und das ist es, was nach der Krise zum Burnoutprozess, im schlimmsten Fall zur einer manifesten psychischen Störung wie Depression oder Angststörung führen kann.

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